Die Bühnengewerkschaft GDBA und die Schauspielgewerkschaft BFFS haben im Juni 2024 in enger Abstimmung mit der VdO (Vereinigung deutscher Opern- und Tanzensembles) den NV Bühne zum 31. Dezember gekündigt, um in den sich anschließenden Verhandlungen einen besseren Tarifvertrag erzielen zu können.
Eine der bekanntesten Regelungen aus dem NV Bühne betrifft die Befristung von Arbeitsverhältnissen mit Solomitgliedern. Befristung bedeutet, dass ein Arbeitsvertrag nur auf Zeit, zum Beispiel für zwei Jahre abgeschlossen wird und automatisch durch Zeitablauf endet, ohne dass es einer Kündigung bedarf. Nach NV Bühne endet der Arbeitsvertrag grundsätzlich auch mit dem im Arbeitsvertrag vereinbarten Zeitpunkt. Er verlängert sich aber automatisch um ein Jahr, wenn das Theater der Verlängerung nicht widerspricht. Einen Widerspruch erklärt das Theater durch die sogenannte Nichtverlängerungsmitteilung, d.h. eine schriftlich Mitteilung, dass das Theater nicht beabsichtigt, den Arbeitsvertrag zu verlängern. An diese Nichtverlängerung stellt der Tarifvertrag bestimmte Anforderungen, die in der Praxis bei guter juristischer Kenntnis in der Regel erfüllt werden können. Der Vorteil dieser Reglungen für die Theater ist, dass die Befristungen von Schauspieler:innen bis zu einer Dauer von 14 Jahren möglich sind, ohne dass ein unbefristetes Arbeitsverhältnis entsteht.
Gilt das auch für Mehrfachbefristungen, wenn der NV Bühne nicht angewendet wird?
Eine Befristungsdauer von 14 Jahren, also Arbeitsverträge, die immer nur für ein Jahr geschlossen werden und dann immer wieder verlängert werden, bis das gesamte Beschäftigungsverhältnis 14 Jahre andauert, ist ohne Tarifvertrag nicht ohne weiteres möglich.
Die Kernfrage ist also, wie lange befristete Arbeitsverträge ohne Tarifvertrag zulässigerweise verlängert werden können.
Der EuGH hat sich mit dieser Frage beschäftigt und zu einer italienischen Befristungsregelung, wonach Opern, Ballett- und Theaterhäuser Arbeitsverträge ohne Einschränkung dauerhaft befristet abschließen dürfen, festgestellt, dass sie gegen europäisches Recht verstößt. Die Kettenbefristung einer Tänzerin zwar demnach nicht ohne weiteres zulässig. Im Ergebnis hat der EuGH klargestellt, dass auch kulturschaffende Arbeitnehmer:innen vor dem missbräuchlichen Einsatz befristeter Arbeitsverträge geschützt werden müssen. Sie dürfen nicht unbeschränkt dem Abschluss von befristeten Verträgen ausgeliefert werden. Auch bei ihnen muss eine Missbrauchsprüfung im Einzelfall möglich sein. Insbesondere könnte auch ein Dauerbedarf der Bühne gegen eine Befristung sprechen.
Unklar ist, inwiefern sich diese Erwägungen auf Deutschland übertragen lassen, da es in Italien im Gegensatz zu Deutschland gerade keine gesetzliche Regel zur Überprüfung der Kettenbefristung gibt, was das Gericht moniert hat. Der Bühnenverein vertritt beispielsweise die Auffassung, dass die Erwägungen nicht übertragbar sind und somit von der bisherigen Rechtsprechung nicht abgewichen werden muss. Die GDBA hingegen vertritt die Auffassung, dass die Entscheidung des EuGH Indizwirkung hat und die Gerichte in Deutschland sogar die 14 Jahre des Tarifvertrages NV Bühne ohne den Hinweis auf die Einschätzungsprärogative der Tarifparteien überprüfen müssen. Die GDBA ist zudem der Meinung, dass von diesem Urteil der Hinweis ausgeht, dass die Schutzbedürftigkeit der Künstler:innen ein höheres Gewicht in der Abwägung erhalten müsse. Die Befristungspraxis hat in der Praxis hohe Auswirkungen auf die Psyche der Künstler:innen, die sich dadurch häufig sehr belastet fühlen. Sie haben das Gefühl, einfach ausgetauscht zu werden, ohne dass das, was sie jahrelang für die Bühnen geleistet haben, etwas wert ist.
Eine höchstrichterliche Entscheidung zu der Frage ist bisher in Deutschland noch nicht ergangen.
Das Gesetz sieht in Deutschland keine starre Schranke vor. Die Gerichte orientieren sich in der Regel an nachfolgender Tabelle, die das Bundesarbeitsgericht (BAG) 2016 aufgestellt hat:
Rechtsmissbrauchsrisiko | Alternativ: Grenze für Laufzeit oder Verlängerungen | Kumulativ: Grenze für Laufzeit und Verlängerungen | |
---|---|---|---|
Keine Rechtsmissbrauchs-kontrolle | grün | bis zu 8 Jahre Gesamtdauer (bei möglichst weniger als 9 Verlängerungen) oder bis zu 12 Verlängerungen (bei möglichst weniger als 6 Jahren) | bis zu 6 Jahre Gesamtdauer und bis zu 9 Verlängerungen |
Institutioneller Rechtsmissbrauch[1] | gelb | über 8 Jahre Gesamtdauer oder mehr als 12 Verlängerungen | über 6 Jahre Gesamtdauer und mehr als 9 Verlängerungen |
Indizierter Rechtsmissbrauch[2] | rot | über 10 Jahre Gesamtdauer oder mehr als 15 Verlängerungen | über 8 Jahre Gesamtdauer und mehr als 12 Verlängerungen |
Danach dürften Verlängerungen bis zu 8 Jahren unproblematisch sein. Ab 8 Jahren werden die Anforderungen an die Zulässigkeit der Befristungen höher. Im Kunstbereich können jedoch deutlich längere Dauern zulässig sein.
Seit einem Urteil des BAG aus dem Jahr 2017 zu einem Schauspieler, der einen Kommissar in einer TV-Serie darstellte und seine Entfristungsklage trotz 18 Jahren Befristung verlor, wird vielfach angenommen, dass eine Befristung über die Dauer von 18 Jahren und länger möglich ist, ohne dass eine missbräuchliche Befristung angenommen wird. So einfach ist es aber nicht.
Im vorstehenden Fall war die Befristung rechtmäßig, weil der Schauspieler einen Arbeitsvertrag über eine bestimmte Rolle hatte und nur in dieser Rolle als Kommissar eingesetzt werden durfte. Wegen dieser beschränkten Einsatzfähigkeit war die sehr lange Befristungsdauer aus Sicht des BAG in Ordnung.
Das BAG wies allerdings ausdrücklich darauf hin, dass dies für Schauspieler:innen in einem Bühnenensemble nicht gilt, wenn sie für eine oder mehrere Spielzeiten engagiert sind und nicht dauerhaft nur für die Übernahme einer einzigen Rolle eingestellt sind. Verständlich, denn diese Schauspieler:innnen könnten für andere Rollen und damit breiter im Bühnenprogramm eingesetzt werden.
Wenn es bei Ensemblemitgliedern nicht 18 Jahre sind, sind es dann zumindest 14 Jahre wie im NV Bühne? Eine klare gerichtliche Entscheidung gibt es hierzu noch nicht. 14 Jahre Befristungsdauer aus dem NV Bühne können aber nicht ohne Weiteres auf Arbeitsverträge ohne NV Bühne übertragen werden. Ein Tarifwerk wie der NV Bühne ist immer als Regelung zu verstehen, die in ihrer Gesamtheit einen Ausgleich der Interessen von Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen schafft, die sogenannte Einschätzungsprärogative der Tarifparteien. Einzelne Regelungsinhalte – wie die Dauer der Befristung – können daher nicht isoliert auf Arbeitsverträge ohne Tarifbindung übertragen werden.
Wir gehen daher davon aus, dass Befristungen ohne NV Bühne nur unterhalb der Dauer von 14 Jahren wirksam sind, allerdings sind nach unserer Einschätzung auch mehr als 8 Jahre möglich, je nach Ausgestaltung der Arbeitsverträge und der tatsächlichen Durchführung der Arbeitsverhältnisse. Bei Arbeitsverhältnissen mit Bühnenbeschäftigten stehen sich das Gestaltungsinteresse des Theaters (Kunstfreiheit) und das Interesse der Schauspieler:innen an einem unbefristeten Arbeitsverhältnis (Berufsfreiheit) gegenüber, beides Rechte von Grundrechtsrang. In jedem Einzelfall ist eine Abwägung dieser Interessen durchzuführen.
In jedem Fall wird das Bestandsinteresse der Schauspieler:innen umso größer, je länger das Arbeitsverhältnis andauert und desto größer wird auch das Risiko, dass ein Missbrauch angenommen wird.
Zur Erinnerung: Voraussetzung für eine wirksame Befristung ist immer das Vorliegen eines Sachgrunds. Bei Arbeitsverträgen mit Schauspieler:innen kommt als Grund die Eigenart der Arbeitsleistung nach § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 TzBfG in Betracht. Ob dieser Befristungsgrund vorliegt, ist im Einzelfall zu prüfen. Voraussetzung ist in jedem Fall, dass die Schauspieler:innen in verantwortlicher Weise bei der Umsetzung der künstlerischen Konzeption eines Werks unmittelbar mitzuwirken haben. Ob das so ist, ergibt sich aus der individuellen Vereinbarung im Arbeitsvertrag zur auszuübenden Tätigkeit.
[1] Bei einem institutionellen Rechtsmissbrauch schaut das Gericht genauer hin. Allerdings wird nicht sofort ein Missbrauch angenommen, denn die bloße Überschreitung der Anzahl und/oder Dauer allein reicht in diesem Fällen dafür nicht aus. Sie führt nur dazu, dass überhaupt über einen Rechtsmissbrauch nachgedacht werden kann. Es müssen dann weitere, zusätzliche Umstände vorliegen, die für einen Missbrauch sprechen.
[2] Bei einem indizierten Rechtsmissbrauch wird demgegenüber der Rechtsmissbrauch sofort vermutet. Die Theater haben dann die Möglichkeit, die Vermutung des Missbrauchs dann entkräften, wenn sie besondere Umstände vorbringen können, die gegen einen Missbrauch sprechen.