Kann das Recht bei kultureller Aneignung helfen?

Für das Programmheft des Theaterstückes „Last Night a DJ Took My Life” der Regisseurin und Choreografin Joana Tischkau am Schauspielhaus Zürich haben Sepide Freitag, Sonja Laaser und Laura Rhotert einen Beitrag mit dem Titel „Kann das Recht bei kultureller Aneignung helfen?“ geschrieben. Das Stück bringt die Lebensgeschichte, der in Kalifornien geborenen Sängerin und Euro-Dance Legende Lori Glori auf die Bühne und stellt Fragen zu Autor:innenschaft und kultureller Aneignung.

Kulturelle Aneignung: eine Annäherung

In Eurodance Soundtracks der 90er Jahre, Choreographien auf TikTok und auf Reggae Konzerten in Deutschland – überall begegnet man ihr, der kulturellen Aneignung (aus dem englischen „cultural appropriation“). Problematisch vor allem dort, wo die Nutznießenden ein Kräfteungleichgewicht zu ihrem Vorteil ausnutzen und wirtschaftlich profitieren.

Die Übernahme von Elementen aus einer anderen Kultur, die in jener verankert, für diese wertvoll und identitätsstiftend sind, ist Kern von ethischen und kulturhistorischen Debatten über kulturelle Aneignung in unserer heutigen Gesellschaft. Dabei nimmt ein Teil des gesellschaftlichen Diskurses sämtliche Motive für eine kulturelle Aneignung in die kritische Betrachtung, wenn Träger einer sogenannten dominanten Kultur ungefragt Kulturelemente einer anderen Kultur übernehmen und sie in einen anderen Kontext stellen, ohne diese zu benennen oder zu entschädigen. Kein Motiv soll in diesem Sinne kritikfrei als Legitimation herhalten dürfen. 

Die Kritik an kultureller Aneignung unterscheidet teilweise nicht zwischen einer verklärten Übernahme mit Hommage-Charakter (wie im Beispiel der Winnetou-Verkleidungen) oder einer Übernahme zum Zwecke einer Kommerzialisierung und ökonomischen Ausbeutung. Beides sind Fälle kultureller Aneignung mit für manche Gruppen unterschiedlichen ethischen Vorwürfen. Im ersten Fall versteckt sich hinter einer vermeintlichen Verehrung[i] die rassistische Verherrlichung von kolonialistischen Fantasien[ii]. Im Fall der ökonomischen Ausbeutung liegt der Vorwurf im Vorteil einer Nutzung kultureller Elemente durch privilegierte, zumeist weiße Menschen gegenüber derselben Nutzung durch die Mitglieder der Ursprungskultur. So steckt auch im Begriff der kulturellen An-eignung ethisch die These eines kulturellen Eigentums, dessen sich Kulturfremde bedienen, diese zuweilen auch der Ursprungskultur entwenden.

Ein Beispiel in diesem Zusammenhang ist sicherlich der Hit-Song „Hound Dog“ in der Version von Elvis Presley aus dem Jahr 1956. Es ist vermutlich nicht allgemein bekannt, dass Presley nur eine Coverversion zuzuschreiben ist. Das Original wurde von Big Mama Thornton gesungen und diese Originalversion verkaufte sich nur 500.000 Mal, während der weiße King of Rock'n'Roll nur drei Jahre später mit dem Coversong sechs Millionen Platten verkaufen konnte[iii].

Nur das Herausgreifen dieser zwei Motive für kulturelle Aneignung zeigt die Vielschichtigkeit und das Vertrackte am Akt der kulturellen Aneignung. Die motivfreie Betrachtung der kulturellen Aneignung als „Prozess […], bei dem kulturelle Symbole, Genre, Artefakte, Rituale und/oder Technologien einer Kultur von Mitgliedern einer anderen Kultur verwendet bzw. übernommen werden“[iv], reduziert diese auf den Akt der Beobachtung und Nachahmung. Erst seine historische, politische, ethische und soziale Einbettung erzeugt die kulturelle Aneignung und die Kritik daran[v].

Gleichzeitig lebt jede Kultur von der Übernahme und Annäherung und ist niemals statisch. Berechtigt erscheint daher der Einwand, dass sich nicht nur die Kulturen, aber auch die ihnen zugehörigen Menschen nicht klar voneinander trennen lassen[vi]. Damit wäre zum einen schwer abzugrenzen, wann eine – vorwerfbare –   kulturelle Aneignung stattfindet, wer diese vornimmt und von wem genau angeeignet wird.

Während also eine vertiefte soziologische, kulturwissenschaftliche und ethische Auseinandersetzung[vii] mit dem Akt der kulturellen Aneignung anhält, gibt der nachfolgende Text einen kurzen Einblick in die ethischen und sodann rechtlichen[viii] Aspekte im Fall der kulturellen Aneignung und geht der Frage nach, inwiefern das Recht überhaupt ein Werkzeug sein kann, bei solchen Aneignungen Abhilfe zu schaffen. Dieser Einblick wird anhand von drei Beispielen gewährt:

  • Musikstile,
  • Choreographien, sowie
  • Der Übernahme von Stimmen Schwarzer Menschen, die Playback von weißen gesungen werden.

Ist die Kopie eines Musikstils erlaubt?

Die Nachahmung eines Musikstils von Musiker:innen zum Zwecke der kommerziellen Vermarktung kann kulturelle Aneignung sein. Aber wie sieht es mit der rechtlichen Bewertung aus? Ist die Nachahmung zulässig oder nicht?

Der US-amerikanische Musiker Marshall Bruce Mathers III, mit Künstlernamen Eminem, gilt als einer der erfolgreichsten und einflussreichsten weißen Rapper aller Zeiten. Er hat es in seiner langen Karriere geschafft, kommerziellen Erfolg, damit Vermögen, eine Fanbase und unter Umständen vielleicht auch eine gewisse Anerkennung unter Angehörigen der Ursprungskultur des Hip-Hops für sich aufzubauen.

Die Kritik, die sich an seine Person und seine Musik anschließt, spricht im Kern über den Vorteil, den er als weißer Rapper mit seinem Talent im Rap gegenüber Schwarzen Rappern mit vergleichbarem Talent hatte: in seinem Song „White America“ sagt Eminem in Vers 2 „Let's do the math: If I was Black, I would've sold half“ und bringt die Kritik auf den Punkt: Den Grad der Anerkennung und des kommerziellen Erfolgs hat er erzielt, weil er Ende der neunziger Jahre bis in die Anfänge der 2000er Jahre als bester Rapper unter weißen Rappern gilt.  Es bleiben Zweifel, ob ein Schwarzer Rapper mit demselben Talent ein vergleichbares Ranking im Hip-Hop erzielt hätte.

Die Kunst des Raps entstand in der Schwarzen Kultur mit Einflüssen westafrikanischer Kultur und war Ende der neunziger Jahre anders als andere Musikstile von Schwarzen Künstler:innen – wie Jazz oder Blues – in seiner ökonomischen Kraft von Schwarzen Künstler:innen dominiert: Im Rap zählten damals und auch heute weiße Künstler:innen noch immer zu den Ausnahmen.  Damit hat der Stil des Rap im Hip-Hop nicht nur die kulturelle, sondern auch eine wirtschaftliche Eigentumskomponente.

Dieses Eigentums bedient sich ein weißer Künstler wie Eminem nun, wenn er eigene Musik in diesem Stil Schwarzer Musik- und Lebenskultur erschafft. Gleiches gilt für den deutschen Künstler Tilmann Otto, mit Künstlernamen Gentleman, der ebenfalls Anfang 2000 Bekanntheit und kommerziellen Erfolg mit Musik im Stil des jamaikanischen Reggaes erlangte. In einem Interview mit dem ZEITmagazin äußert Otto, wie erfolgreich er unter einer vermeintlichen jamaikanischen Identität in den Anfängen seiner Karriere im Radio Bekanntheit im jamaikanischen Musikmarkt aufbauen konnte. Auch seine Karriere basiert gleichzeitig auf Verehrung und Ausbeutung einer Ursprungskultur, zu der er sich als weißer Erbe kolonialistischer Macht Zugang verschafft und zu seinem Vorteil nutzt. Gleichzeitig enthält er damit Angehörigen der Ursprungskultur den Platz in der Öffentlichkeit und die Möglichkeiten zur Kommerzialisierung der eigenen Kunst vor. So sagt Otto: „Mich selbst stört es tierisch, wenn auf den größten Reggae-Festivals in Europa die Headliner alle weiß sind und wenn das dazu führt, dass jamaikanische Künstler und Künstlerinnen nicht mehr eingeladen werden.“

In rechtlicher Hinsicht sind die hier in den Fokus genommenen Beispiele kultureller Aneignung keine Verletzung geistigen Eigentums. Das liegt daran, dass das deutsche Urheberrecht keinen Stil per se schützt, sondern die konkrete Ausgestaltung einer künstlerischen Idee und dabei noch nicht einmal die Idee selbst. Der Stil eine:r Künstler:in, einer Epoche oder eben auch einer Kultur spielt urheberrechtlich keine Rolle.[ix] Sogar im Gegenteil: in der Rechtswissenschaft wird diese Schutzfreiheit gewissermaßen im Sinne der Schöpfungskraft verteidigt. Die Monopolisierung von Stil „würde zu einer Behinderung anderer Urheber führen“[x]. Die Kunst soll im Grundsatz frei sein und nur in klar abgrenzbaren Teilen den Schutz des Urhebergesetztes erhalten.

Damit hilft das Urheberrecht nicht bei allen „Ungerechtigkeiten“. Es findet seine Grenze dort, wo kulturelle Aneignung zwar ein Akt der Inspiration und Kunstschaffung ist, dabei häufig aber auch in „Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse verstrickt ist“[xi]. Diese Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse sind nicht Schutzgegenstand des Urheberrechts.

Für die Zukunft stellt sich die Frage, wie es möglich wäre, der ökonomischen Ausbeutung rechtlich zu begegnen. Vermutlich wäre hier nicht das Urheberrecht der richtige Ankerpunkt. Regeln zu der namentlichen Nennung in den sogenannten Credits, Sichtbarkeiten, Quoten u.a. auf Social Media Plattformen könnten hierfür ein effektiveres und sinnvolleres Mittel sein.

Ist das Nachtanzen einer Choreographie auf TikTok urheberrechtlich erlaubt?

Ist das Nachtanzen einer Choreographie auf Tiktok erlaubt? Auf der Social Media Plattform TikTok kopieren TikToker:innen regelmäßig Choreographien von anderen TikToker:innen. Dies insbesondere in der Vergangenheit ohne eine ausreichende Benennung der Schöpfer:innen der Choreographien in den Credits.  Die Schwarze TikTok-Community kritisiert in den letzten Jahren insbesondere diese mangelnde Creditkultur bei TikTok[xii].

Ein populäres Beispiel für fehlende Credits liefert der Fall von Addison Rae anlässlich ihres Auftritts in der Sendung „The Tonight Show with Jimmy Fallon“[xiii], eine Sendung mit hoher Reichweite, die schließlich auch die Bekanntheit der TikTokerin Addison Rae erhöht hat. In der Sendung hat die weiße TikTokerin eine Vielzahl der von ihr auf TikTok nachgetanzten Choreographien vorgeführt. Die Choreographien stammen nicht von ihr, sondern mehrheitlich von Schwarzen TikToker:innen. Dieser Umstand wurde während des Fernsehauftrittes bei „The Tonight Show with Jimmy Fallon“ nicht benannt. Auch wurde keine dieser Schwarzen TikToker:innen eingeladen. Erst eine große Welle der Empörung führte in der Folge dazu, dass Jimmy Fallon in einer seiner nächsten Sendungen einflussreiche Schwarze TikToker:innen einlud und deren Tänze zeigte.[xiv] 

Durch die prioritäre Möglichkeit der Selbstpräsentation, wie z. B. in der Sendung aber auch durch eine Toleranz der fehlenden Creditkultur auf der Plattform, erhalten weiße TikToker:innen mehr Follower und dadurch auch mehr monetäre Verwertungsmöglichkeiten. Dies mag auch am nutzergenerierten Algorithmus von TikTok und den Vorlieben seiner Nutzer:innen liegen. So ist auch der nach wie vor vorhandene strukturelle Rassismus in der Gesellschaft ein Grund, aus dem Nutzer:innen eher weißen TikToker:innen folgen[xv].

Diese Vorrangstellung führt zu dem Dilemma, dass weiße TikToker:innen sich Choregoraphien von Schwarzen TikToker:innen bedienen, ihre Reichweite so erhöhen, während Schwarze TikToker:innen – obwohl sie Urheber: innen der Choreographien sind – eine Benachteiligung erleiden. Weiße TikToker:innen bedienen sich des fremden Kapitals, schlagen daraus Profit und versagen der Schwarzen Community selbigen Profit. Was können die Schwarzen TikToker:innen dagegen tun? Sie können zum Beispiel bei TikTok streiken.[xvi]

Könnten sich die Choreograph:innen auch rechtlich gegen die Übernahme ihrer Choreographien wehren? Vermutlich ja, aber vermutlich, ohne das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Denn die Sichtbarkeit und ein (kommerzieller) Erfolg bei TikTok hängen gerade davon ab, dass man kopiert wird - vorausgesetzt, dass dann auch rechtmäßig kreditiert wird. Wenn die Übernahme also einfach verboten würde, würde es der Reichweite nicht helfen.

Die richtigen Credits erscheinen somit als eine Chance auf Reichweite und dienen gleichermaßen als „bare minimum“-Anforderung während der Algorithmus der Plattform und der strukturelle Rassismus noch bekämpft werden. Schwarze TikToker:innen können Credits für die Nachahmung ihrer Choreographien verlangen, sofern es sich bei diesen um nach dem Urhebergesetz geschützte Werke handelt.

Wann sind Choreographien nach deutschem Recht rechtlich geschützt?

Nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 des Urheberrechtsgesetzes (UrhG) sind pantomimische Werke einschließlich der Werke der Tanzkunst geschützt – d.h. auch die Choreographie unterfällt grundsätzlich dem Urheberschutz. Geschützte choreographische Werke sind nicht nur auf Bewegung, Schritte, Technik und Gebärden zu reduzieren, sondern sie sind tänzerische Kompositionen, die als Raum- und Bewegungschoreographien rhythmisch, metrisch und tempogebend gestaltet und für das Auge objektiv wahrnehmbar sind. Nicht geschützt sind wiederum tradierte Tanzformen wie Volkstänze; diese gehören der Allgemeinheit und fallen nicht unter das Urheberrecht. Zudem müssen die choreographischen Teile, um den Schutz des Urhebergesetzes zu erreichen, eine bestimmte Schöpfungshöhe aufweisen. Vereinfacht gesagt ist dies bei gewöhnlichen Bewegungsabfolgen nicht der Fall.

Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ab wann die Übernahme von choreographischen Anteilen eine Verletzung des Urheberrechts darstellt.[xvii] Das Urheberrecht an einer geschützten Choreographie wird zumindest dann verletzt, wenn die Choreographie in Gänze oder in Teilen übernommen wird. Wenn der übernommene Teil zu kurz ist, wird dieser nicht vom Urheberrecht geschützt und damit kann das Urheberrecht an der Choreographie nicht verletzt werden.[xviii]

In der gerichtlichen Entscheidung zu der Choreographie „Am grünen Tische“ von Kurt Joos ging das Gericht z.B. von einer Verletzung des Urheberrechts aus, als eine Szene dieser Choreographie, in der alte Männer durch rhythmische gebundene Bewegungen, tänzerische Schritte und Gebärden eine diplomatische Beratung am Tisch abhielten, im Rahmen eines Films übernommen worden war.

Das Urheberrecht verhilft Schwarzen Tik:Toker:innen lediglich hinsichtlich der Credits. Das viel größere Problem der Sichtbarkeit, auch bedingt durch nutzergenerierte Algorithmen, wird dadurch jedoch nicht gelöst. Dafür bedarf es andere Regularien, wie bestimmte Algorithmen der Plattformen, die Schwarzen TikToker:innen eine Chance auf größere Sichtbarkeit einräumen, insbesondere solange die Nutzer:innen von TikTok weiße TikToker:innen nur aufgrund ihrer Hautfarbe bevorzugen.

Die Übernahme von Stimmen Schwarzer Menschen für weißen Playback

Eine weitere Ausprägung, die vielleicht nicht unmittelbar unter den Begriff der kulturellen Aneignung fällt, kann das Singen von Playback bei Konzerten darstellen. Weiße Menschen singen Playback zu Musikaufnahmen mit Stimmen von Schwarzen Menschen. Das Publikum ordnet die Stimmen den weißen Playbacksänger:innen zu. Ist Playback-Singen zulässig, wenn ein:e Künstler:in mit der Darbietung der eigenen Stimme durch eine andere Person nicht einverstanden ist?

Playback auf fremde Stimmen zu „singen“ ist in der Musikbranche üblich. Einen kritischen Blick bedarf es aber trotz oder gerade gegen alle Üblichkeit, wenn der Grund für die Übernahme der Stimme Schwarzer Sänger:innen durch unbekannte weiße und damit für die Verdrängung der Schwarzen Sänger:innen auf der Bühne scheinbar nur die Hautfarbe ist.

So erging es unter anderem der Künstlerin Lori Glori[xix], die, selbst als Sängerin und Komponistin erfolgreich, in den 90er Jahren Tonaufnahmen für unterschiedliche Künstler:innen einsang, darunter DJ BoBo[xx], im Fernsehen dann aber fremde weiße Frauen zu ihrer Stimme darbieten sah. Die Zusammenarbeit mit DJ BoBo führte im Jahre 2000 schließlich vor Gericht, da Lori Glori unter anderem die Nutzung ihrer Stimme auf diese Art nicht wollte. DJ Bobo bzw. dessen Produktionsgesellschaft erhielt in erster Instanz Recht[xxi].

Die Rechtslage in Bezug auf Playbacks — Der Schutz von Gesangsaufzeichnungen

Das Bauchgefühl sagt einem bereits, dass nicht jede:r ungefragt die Stimmaufnahmen einer anderen Person nutzen und für die eigene Stimme ausgeben darf. Und auch das unangenehme Gefühl kann wohl jede:r nachvollziehen, wenn die eigene Stimme gehört wird, aber ein anderes Gesicht dazu gesehen. Vor diesen Eingriffen in die persönliche Sphäre schützen das Urheberrecht und die Persönlichkeitsrechte[xxii]. So sind die Tonaufnahmen des Gesangs von Sänger:innen zunächst nach dem Urheberrechtsgesetz geschützt. Vertraglich können die Sänger:innen in die Verwertung der Tonaufnahmen einwilligen und Nutzungsrechte einräumen.

Sollte nicht explizit vereinbart worden sein, welche Nutzungsrechte eingeräumt bzw. auf welche Persönlichkeitsrechte verzichtet werden soll – z. B. in Fällen einer pauschalen Übertragung –, sieht das Gesetz vor, dass der Umfang der Rechteeinräumung aus dem Vertragszweck abgeleitet wird. Diese Art der Ableitung – also eine Interpretation dessen, was die Parteien gewollt haben können, nennt sich Zweckübertragungslehre. Danach werden im Zweifel nur die Nutzungsrechte und Persönlichkeitsrechte eingeräumt, die für die Erfüllung des Vertragszwecks erforderlich sind.

Auch im Fall von Lori Glori vs. DJ BoBo hat das Gericht die Berührung von Persönlichkeitsrechten bei einem Playback-Gesang auf fremde Stimmen gesehen[xxiii]. Das bedeutet, dass das Playback, also das Singen einer Person zu der Stimme einer anderen Person, nur erlaubt ist, wenn die Person, der die Stimme gehört, mit dem Playback einverstanden ist. Es hat aber auch entschieden, dass Lori Glori mit diesem Eingriff in ihre Persönlichkeitsrechte zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses einverstanden war. In ihrem Fall wurde zwar nicht ausdrücklich vereinbart, dass die Aufzeichnung auch für ein Playback genutzt werden darf. Da aber pauschal alle Rechte eingeräumt wurden, konnte — so das Gericht — interpretiert – also unterstellt werden, dass zumindest auch die Rechte für Playback im Musikvideo als auch auf der Bühne übertragen werden sollten. Das Hauptargument hier, dass es so szeneüblich sei. Die Üblichkeit dient dabei traditionell als Auslegungshilfe, wenn die vorgenannte Zweckübertragungslehre zum Einsatz kommt. Die Gerichtsentscheidung wurde nicht höchstrichterlich bestätigt und eine andere Auslegung, zugunsten Lori Gloris, erscheint durchaus denkbar.

Am Fall von Lori Glori zeigt sich, dass das Recht keine einfachen Lösungen kennt und unterschiedlichen Auslegungen offensteht. Um sicher zu gehen, sollte jedes Mal, wenn die Übertragung von Rechten im Spiel ist, ganz genau hingeschaut werden. So lehrt es mittlerweile auch Lori Glori ihre jüngeren Kolleg:innen[xxiv]. Es lässt sich zudem auch explizit im Vertrag vereinbaren, dass die Übernahme der eigenen Stimme im Playback nicht erfolgen soll und, dass bei Schwarzen Sänger:innen keine weißen Sänger:innen die Stimme über Playback übernehmen sollen. Die im Gerichtsverfahren Lori Glori vs. DJ BoBo aufgeführte Szeneüblichkeit würde – sollte eine solche Klausel in der Praxis üblich werden – langfristig nicht mehr bestehen.

Fazit und Ausblick

Auch wenn Ethik und Recht eng zusammenhängen, steht das deutsche Recht der kulturellen Aneignung bisher neutral gegenüber. Um den tatsächlich bestehenden Gewalt- und Ausbeutungsverhältnissen etwas entgegenzusetzen, sind Rechtsnormen – Gesetze – auch nicht das einzige Instrument. Der vorliegende Einblick hat gezeigt, dass das Gesetz schnell an seine Schutzgrenzen gelangt. Durch vertragliche Vereinbarungen sowie Nutzungsvereinbarungen von Social Media Plattformen kann die Rechtsordnung hingegen schon sehr viel größeren Einfluss haben. So gilt es, diese bereits bestehenden, auch sozialen, Werkzeuge verstärkt zu nutzen, auf diese Weise den Wandel in den Bräuchen und der Gesellschaft fortwährend zu üben und schließlich durch diese faktische Aus-Übung auch eine Anpassung des Rechts zu erwirken. Denn auch fortdauernde tatsächliche Übung im Wandeln kann es schaffen, Gesetze zu verändern. Die Normierung dieser Übung „erschafft die neue „[…] Norm selbst als autoritäres Gebot des Gemeinwesens, also als Rechtsnorm“[xxv].

Endnote

[i] „[…] um die Terminologie des späten Karl May zu bemühen, als „Edelmenschen“ verehrt“, Jens Balzer, Ethik der Appropriation, MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, 2022 (im Folgenden nur „Jens Balzer, Ethik der Appropriation“ genannt), S. 12.

[ii] „Wer sich das Gesicht rot anmalt, um als „Rothaut“ (rassistischer Ausdruck) zu wirken, vollzieht damit einen diskriminierenden Akt. Denn die „rote“ Hautfarbe […] gibt es nur in den kolonialen Phantasien [von] Unterdrückern und Mördern […].“, Jens Balzer, Ethik der Appropriation, S. 12.

[iii] Zum Song „Hound Dog“ von Big Mama Thornton: Wikipedia Eintrag unter https://de.wikipedia.org/wiki/Hound_Dog (aufgerufen am 17.03.2024).

[iv] GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2022, unter Mitarbeit von Dr. phil. Darja Pisetzki, ehem. Projektmitarbeiterin der GRA online unter https://www.gra.ch/bildung/glossar/kulturelleaneignung/ (aufgerufen am 17.03.2024).

[v]  GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2022, unter Mitarbeit von Dr. phil. Darja Pisetzki, ehem. Projektmitarbeiterin der GRA online unter https://www.gra.ch/bildung/glossar/kulturelleaneignung/ (aufgerufen am 17.03.2024).

[vi]  S. Lars Distelhorst, Kulturelle Aneignung, Nautilus Flugschrift, S. 48.

[vii] Beispiel unter vielen: aaO Jens Balzer, Ethik der Appropriation.

[viii] Nach deutscher Rechtsordnung. Andere Ergebnisse könnten sich über die Anwendung anderer Rechtsordnungen ergeben.

[ix] Lüft/Bullinger in: Wandtke/Bullinger, Urheberrecht 6. Auflage 2022, § 50 a Rdnr. 14.

[x]  Bullinger in: Wandtke/Bullinger, Urheberrecht 6. Auflage 2022, § 2 Rndr. 40.

[xi] aaO Jens Balzer, Ethik der Appropriation, S. 18.

[xii] Taylor Lorenz, The Original Renegate, New York Times v. 13.02.2020, abrufbar unter https://www.nytimes.com/2020/02/13/style/the-original-renegade.html (aufgerufen am 20.03.24).

[xiii] Ausschnitt aus The Tonight Show starring Jimmy Fallon, abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=gvKdZK_WKLE (aufgerufen am 20.03.2024).

[xiv] Ausschnitt aus Entertainment Tonight, TikTok Creators Perform on Tonight Show After Addison Rae Controversy, abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=7HUFsy6aCYQ (aufgerufen am 20.03.2024).

[xv] Mehr hierzu unter: Are Black creators on TikTok getting credit for their creative work?, Nightline, ABC News, abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=zqNYrMvAU3c, (aufgerufen am 20.03.2024).

[xvi] Jessica Byrne, Black TikTok creators on strike points to a wider cultural issue, thred v. 01.07.2021, abrufbar unter https://thred.com/de/culture/black-tiktok-creator-strike-points-to-a-wider-cultural-issue/, (aufgerufen am 20.03.2024).

[xvii] Nur wenige gerichtliche Entscheidungen nehmen Stellung dazu, wann die Übernahme von (Teilen) einer Choreographie das Urheberrecht verletzen: so z. B. LG München, UFITA 54 (1969), 320 ff. - Tierdressur GRUR Int 1985, 299, beck-online; LG Essen, UFITA 18 (1954), 243 ff. - Der grüne Tisch - GRUR Int 1985, 299, beck-online; OLG München, UFITA 74 (1975); Wandtke/Bullinger/Bullinger, 6. Aufl. 2022, UrhG § 2 Rn. 74UR Int 1985, 299, beck-online.

[xviii] Schippan, Der Schutz von kurzen Textwerken im digitalen Zeitalter, München, ZUM 2013, 358, beck-online.

[xix] Bürgerlicher Name Lori Hölzel.

[xx] Bürgerlicher Name René Peter Baumann.

[xxi] LG Hannover, 18 O 134/98, Urteil vom 07.12.2000.

[xxii] LG Hannover, 18 O 134/98, Urteil vom 07.12.2000, S. 5; s.a. Rixecker in MüKoBGB, BGB Anh. § 12 Rn. 4, beck-online: „Das Persönlichkeitsrecht dient allerdings nicht nur dem Schutz ideeller Interessen, des Wert- und Achtungsanspruchs eines Menschen. In zunehmendem Maße erweisen sich Kennzeichen einer Person – ihr Bildnis, der Name, ihre Stimme, ihre „Lebensgeschichte“, schlechthin alle die Person betreffenden Informationen – in aller Regel auf Grund ihrer besonderen Leistungen aber auch einmal auf Grund eines zufällig entstandenen Interesses des Marktes – als wirtschaftlich wertvoll: Sie werden nutzbar zu Zwecken der Werbung für Produkte und Dienstleistungen aber auch allein ihrer Darbietung wegen. In einem solchen Fall gebietet über den Schutzauftrag der Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG hinaus jener der Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 14 Abs. 1 GG, den Einzelnen vor der kommerziellen Indienstnahme des wirtschaftlichen Werts seiner Persönlichkeit durch Nichtberechtigte zu bewahren“.

[xxiii] LG Hannover, 18 O 134/98, Urteil vom 07.12.2000, S. 5.

[xxiv] Lori Glori in DMSUBM – Black Voices – White Producers. Gespräch mit Lori Glori & Sarah Farina, abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=GNpHF5KuROEhttps://www.youtube.com/watch?v=GNpHF5KuROE, zuletzt abgerufen am 20.03.24.

[xxv] Möslein zitiert Jelinek in: Die normative Kraft des Ethischen, RDi 2020, 34, Rn. 1.